Das Bild der Wirklichkeit

Kunst entsteht aus dem Bedürfnis sich ein Bild der Wirklichkeit zu machen. Wirklichkeit lässt sich auf die beiden existenziellen Seinsqualitäten, Wesen und Bewusstsein reduzieren. Diese drücken sich in den drei Entitäten Licht, Raum und Zeit mannigfaltig aus. 


Auf der Bildebene finden sich dafür die Entsprechungen in der Farbe, im Flächenraum, in der Wirkung und anderen bildnerischen Elementen. Das Bild als schöpferisches Produkt eröffnet einen Weg zu den Seinsqualitäten und der damit verbundenen Entitäten. 


Kunst lüftet den Schleier, der sich durch unsere Sehgewohnheiten und die Grenzen des Denkens gebildet hat.

Kunst lebt von der Magie des Werkes und den "offenbaren Geheimnissen“*1 der bildnerischen Mittel. Zwischen Chaos und Ordnung bewegt sich die Kunst innerhalb elementarer Gewalten, im freien Spiel der Kräfte. *2


Mit der Kunst stürzt man in das Chaos, um zu finden was schon immer da war aber dennoch noch nicht existiert.

Für die Rezeption von Kunst sind keine Voraussetzungen erforderlich. Kunst benötigt keine Bedienungsanleitung, wenn sie befreit ist von intellektuellen Konstruktionen. Kunst braucht die aktive Wahrnehmung des ganzen Menschen, sonst kann sie ihr Potenzial nicht zur Entfaltung bringen. Kunst ist wie ein Samenkorn, das aufgeht, wenn der Rezipient sich einlässt. "Nicht was ist, liegt also den Schöpfungen der Kunst zugrunde, sondern was sein könnte; nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche“.*3

Malerei führt über eine begriffsfreie Wahrnehmung zu visuellen Erkenntnissen.

Malerei bietet dem Betrachter die Möglichkeit sich von der Determiniertheit seines Sehens zu befreien und Altbekanntes neu sehen zu lernen. Ein solches Sehen lässt die Welt in jedem Augenblick neu erstehen. Das Bild bildet nichts Bekanntes ab. Im besten Falle ist es Keim einer anschaubaren Zukunft. Das Werk ist vollendet, wenn Farbe und Form zueinander gefunden haben. Zum Symbol verdichtet hat es eine "aufschließende Kraft“*4 und wohnt der Bildgestalt inne. 


Das Werk ist als autonomes Objekt allerdings nicht verschlossen. Es bleibt durchlässig und lädt den Betrachter ein, staunend auf die Suche zu gehen, im dämmrigen Zwielicht, den Farbspuren zu folgen. Sie sind Wegweiser im Bild.


Das bildnerische Denken*7 entfaltet sich nach den Gesetzmäßigkeiten der Mittel. Das Bild ergänzt sich im Sehakt und erweitert sich durch die visuellen Erkenntnisse.


Sehkonventionen ändern sich am Bild - im Sehprozess. Die Freiheit des Sehens als Entwicklungsangebot ist meine Mission. 

Innovation entsteht, egal auf welchem Gebiet, wenn wir uns loslösen von alten Seh- und Denkgewohnheiten. Zukunft lässt sich nicht ableiten aus der Vergangenheit. 

Die "Visuelle Identität“*9 schafft den Boden, um sich als Betrachter, aus der Knechtschaft der Identifikation zu lösen. Diese ermöglicht ein eigenes und freies Urteil, jene zwingt das Auge in vorgefertigte Bilder.


Das neue Sehen schaut aus der Perspektive des Gegenübers, womit es eine besondere soziale Funktion ausübt.


Neue Kunst entsteht nicht dadurch, dass Inhalte und Formen einen nie dagewesenen originellen Zustand im historischen Sinne annehmen, sondern innovative Kunst entsteht, wenn durch das Werk das Sehen des Menschen in die Lage versetzt wird, tatsächlich neu zu sehen. Neu zu sehen heißt das Potenzial und die Zukunft zu sehen.

Grundlage des Gestaltungsprozesses ist die Konzentration auf das Wesentliche.

Die maximale Wirkung des Bildes zu bewirken mit dem Minimum an Material und Mitteln ist Maxime meines Schaffens.


Realisiert durch Spiel und Konstruktion geht das Werk - als individueller Organismus - über die Natur hinaus und vereint, was ihr zuwider läuft. "Die Natur will stets nur das Individuelle im Ganzen und nie das Ganze im Einzelnen realisieren". *5 Die Kunst schafft, wozu sich die Natur nicht hergibt und führt das weiter, was zwar in der Schöpfung als Potenz angelegt, aber nicht realisiert ist. Kunst erweitert das sinnlich Erfahrbare um dessen Idee.


Das Kunstwerk verwandelt sich dadurch vom Vergänglichen zur ewigen Dauer. Dieser Zustand ist das zeitlose Einstiegstor des Rezipienten und bildet die Brücke zum Wesenskern. Nicht der eigene persönliche Blick und die eigenen Maßstäbe sind im Wahrnehmungsprozess entscheidend, sondern die Farbe selbst führt das Wahrnehmen und Erkennen.*6 Die Trennung von Subjekt und Objekt wird durch die Steigerung der Polarität überwunden und damit ein neuer Standpunkt des Betrachters geschaffen. Nichts ist mehr wie es war.

Die Farbe ist einerseits so frei und formlos wie das Licht, andererseits ist ihr Ordnung, Struktur und Rhythmus immanent.

Die Farbe ist das zentrale konstitutive Element der Malerei. Sie ist seit Paul Cézanne nicht mehr Mittel zum Zweck. Sie hat ein eigenständiges Wesen. Die Identität der Farbe wird in der subtilen Wahrnehmung erfahrbar. Im Flächenraum, zwischen Licht und Finsternis, entfaltet sich die Wirkung der Farbe. Farbe erscheint als transparente, halbtransparente oder deckende Farbe in Wärme und Kälte, in Licht und Dunkelheit, in Nähe und Ferne. Farbe entsteht dynamisch zwischen Licht und Finsternis.

Farbe wirkt differenziert nach ihrer geistigen Natur und ist als solche maßgebliche Kraft im Bild. 


Die Energiequalität der Farbe entsteht erst im Schaffensprozess. Sie ist am Anfang des Schaffens reine Materie, während sie am Ende geistdurchdrungene verwandelte Materie ist.

Leben und Idee der Farbe werden in der Realisation sinnlich wahrnehmbar. Die scheinbare Konstanz der Farbe wird erschüttert durch die Wechselbeziehungen der simultan und sukzessiv wirkenden Umraumfarben. Sie kann in ihrem Wesen durch den Ausdruck und die Wirkung ihrer Nachbarfarben ins Gegenteil verkehrt werden. Farben verändern sich in der Interaktion mit dem Betrachter.

Die Raumarchitektur der Malerei nimmt ihren Ausgangspunkt in der zweidimensionalen Fläche und veredelt sich bis zum vierdimensionalen Raum. 

Die Fläche gibt eine andere Raumdynamik vor als der Punkt oder die Linie. Farbmalerei ist Flächenkunst. Die gestaltete Simultanität der Farbe im Flächenraum ermöglicht, dass jeder Fleck im Bildraum gleichwertig ist. Die Farben wirken wechselseitig aufeinander; es entstehen kommunizierende Farbbeziehungen. Die Bildarchitektur des Flächenraumes führt den Betrachter in eine Dimension, die neue Blickwinkel und Standpunkte schafft.

Der Rezipient erlebt im Schauen eine fluktuierende, sich bewegende und verändernde Farbe. 


Hintergrund und Vordergrund werden von einer statischen Bildarchitektur in ein dynamisches Raumkonzept erhoben. Eine Bildmitte im Sinne der alten Zentralperspektive, die ihren Ausgang in der Erkenntnis eines Francesco Petrarca *8 nahm, ist nicht mehr vorhanden. Alles bewegt sich und ist dennoch wie durch ein geheimes Band gehalten. Zentrum und Peripherie wirken simultan zusammen. Im fließenden Gleichgewicht schöpft sich die Farbe in jedem Moment neu wie eine ewige Quelle. Jeder neue Farbpunkt verändert alles. Die zweidimensionale Fläche transformiert sich zu einem vierdimensionalen Raum.

Die Form wächst aus der Farbe.

Prozessual wächst die Komplexität des Bildes und wird durch das übereinander lagern und nebeneinander setzen von Farben verdichtet, bis eine intensive Farbpräsenz entsteht. Die Energie der Farbe schafft sich ihre Strukturen und Formen im Wechselspiel des Zusammenwirkens. Farben, Rhythmen, Strukturen, Gesten, Bewegungen und Formen suchen sich im Gestaltungsprozess so lange, bis sich die Identität zwischen allen Elementen einstellt. Alles ist dann miteinander verbunden und ergibt ein Ganzes. Farbe bewegt sich und schafft Bewegung. Aus der Bewegung entstehen Farbstrukturen, die sich im Rhythmus der Farben zu Formen verdichten. Die Formen entstehen im Prozess, werden gemalt, gerissen oder gebrochen.


Die Grenzen der Farbformen sind besondere Stellen. Sie machen die Spuren des Entstehungsprozesses sichtbar. Es entstehen Grenzräume und Übergänge. Farbformen bilden und lösen sich im Schaffensprozess immer wieder auf bis sie in einem labilen Gleichgewicht zur Ruhe kommen, aber dennoch im Status des Werdens verbleiben. Jede Grenze trennt und verbindet zugleich. An den Grenzen prallen die Kräfte der Farben aufeinander und treten in eine intelligente Interaktion ein. Allein durch die Energiedifferenzen entsteht eine Dynamik zwischen den Farben, die wiederum Auswirkungen hat auf die ganze Farb- und Formgestalt. Die Farbe sucht und erschafft im polaren Kräfteströmen die Form, die zu ihr passt.

Die Konzentration auf das kleine Format ist eine Art essentielle Reduktion. Das Quadrat als Form ist schwerelos. Als Grundform ist es eine Art schwebender Mittelpunkt.

1 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, Kunst 1168

2 Friedrich Schiller: Ästhetische Briefe (Augustenburger Briefe von 1791 bis 1793 an Herzog Christian Friedrich von Augustenburg)

3 Rudolf Steiner: Kunst- und Kunsterkenntnis, Goethe als Vater einer neuen Ästhetik, 1889, S. 30

4 Johann Wolfgang von Goethe: Symbolbegriff, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 470-471

5 Johann Wolfgang von Goethe: Metamorphosen

6 Johann Wolfgang von Goethe: Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt, Aufsatz 1794

7 Paul Klee: Das bildnerische Denken, Form- und Gestaltungslehre

8 Francesco Petrarca, Brief 1336, Besteigung des Mont Ventoux

9 Raimer Jochims: Visuelle Identität, 1975

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